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Phillip Sollmann

Monheim Papers Die Strukturen freilegen von Laura Aha

DJ, Produzent, minimalistischer Klangforscher: Phillip Sollmann vermisst die Dimensionen des Sounds neu und zwingt zu einer intensiven Begegnung mit sich selbst – egal ob auf dem Dancefloor oder zwischen den Pfeifen einer in den Raum explodierten Orgel.

Auf dem Tennisplatz denkt Phillip Sollmann über die Einsamkeit nach. „Es gibt selten so eine Einsamkeit wie beim Auflegen oder im Tennis-Match. Du stehst auf der Bühne vor 1.000 Leuten und bist völlig allein. Du kannst mit niemandem sprechen, weil es so laut ist, bist mit deiner Performance völlig auf dich zurückgeworfen. Und beim Tennis spielst du einer gegen einen. Da komm ich ursprünglich her, aus dieser Denke: Ich mach alles alleine.“ 

Dann lacht er selbst über diesen Vergleich. Es ist November und wir sitzen über Rote-Beete-Gnocchi in einem Berliner Café, unweit seines Studios in einem Industriekomplex im ehemaligen Arbeiterbezirk Wedding. Dort lagern die vielen Pfeifen, die seit etwa fünf Jahren Teil seines künstlerischen Schaffensprozesses sind; hier hat er auch den Großteil des Lockdowns zugebracht. Denn Auflegen, das war für Sollmann, der als DJ und Berghain-Resident unter dem Moniker Efdemin bekannt ist, in den vergangenen 18 Monaten wie für die meisten kaum möglich. Die Einsamkeit hingegen, die war so präsent wie nie.

Umso glücklicher ist er daher über sein „Modular Organ System“ Projekt, das er im Juni 2023 gemeinsam mit seinem Kollegen Konrad Sprenger auch in der von Heinz Mack gestalteten Glaspyramide in Monheim am Rhein installieren wird. Denn hier arbeitet er nicht allein: „Das Orgelprojekt nimmt immer mehr kollektivistische, prozesshafte Formen an. Es werden immer mehr Leute, die Teil des künstlerischen Teams werden. Gerade wächst es toll und hat etwas Pilzhaftes. Ein bisschen wie ein Myzel, aus dem immer neue Abzweigungen rauskommen.“

 Ein bisschen pilzhaft sieht die Installation auch aus. Mithilfe eines Handy-Videos versucht Sollmann die Idee zu erklären: „Das ist quasi wie so eine Orgel, die in den Raum raus explodiert ist.“ Von einer zentralen Luftmaschine führen Schläuche zu den verschieden großen Orgelpfeifen, die über den ganzen Raum verteilt liegen, stehen oder hängen. Einige scheinen sich in eingefrorener Tanzbewegung aufzubäumen, an anderen hängen trichterförmige Verstärker aus Keramik oder Glasfaser, die die kupferglänzenden Orgelpfeifen in abstrakte, skulpturale Objekte verwandeln.

Materialität ist ein großes Thema für Sollmann. Aus bestehendem Material durch Rekombination und Rekontextualisierung Neues erschaffen, das ist ein Prinzip, das sich durch alle seine künstlerischen Ausdrucksformen Sollmanns zieht – egal ob er mit Platten, Bandmaschine, Samples oder mechanischen Instrumenten arbeitet. Oder eben mit Orgelpfeifen aus Glasfaser, Kupfer oder Carbon. „Die Formen interessieren mich sehr, dieses Skulpturale. Das ist alles mit der Hand geformt“, erklärt er. Die portugiesischen Orgelbauer, wo er die meisten der Pfeifen hat anfertigen lassen, beneiden Sollmann und Sprenger fast um ihre Radikalität bei der Materialauswahl. „,Das muss 30 Jahre lang getauchtes Eichenholz sein, das vollkommen säurefrei ist, damit die Zinklegierung nicht angegriffen wird nach 150 Jahren’“, imitiert er klassische Orgelbauer. „Und wir sitzen da mit der Gasmaske und probieren mit glasfaserverstärktem Kunststoff was aus.“ Sollmann kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dann schaut er über seine Schulter und zeigt auf den Holzofen hinter sich: „Den könnte man auch gut als Balg nehmen, um dann da so Hörner dran zu machen.“ Im Kopf scheint er dauerhaft weiter zu tüfteln.

Sogar den Klang selbst bearbeitet er wie ein Bildhauer ein skulpturales Objekt. Rausgelöst aus ihrem Register-Kontext werden die einzelnen Töne der Orgel im Raum durch die Bewegung der Besucherinnen und Besucher erfahrbar. Durch die Arbeit mit reiner Stimmung, also der tonalen Stimmung der Pfeifen in ganz-zahligen Verhältnissen zueinander, werden Sollmann zufolge die Obertöne als Struktur hinter dem Klang hörbar. „Wir ziehen sozusagen die Vorhänge weg und zeigen das komplexe Gebilde dahinter. So wie die Orgel freigelegt wird, legen wir auch das tonale Spektrum frei. Die Zusammensetzung der Töne wird erfahrbar.“

Das „Modular Organ System“ ist die ultimative Dekonstruktion. Statt von einem Instrument spricht Sollmann daher auch von einer „modulare Klangerzeugungsmaschine“. Modular in mehrfacher Hinsicht: In ihrem Aufbau aus einzelnen Teilelementen. Durch das Kollektiv bildender Künstlerinnen und Künstler, die phasenweise in den Prozess einsteigen und die Installation permanent weiterentwickeln. Und durch die mobile Beweglichkeit, dank der die Installation an den verschiedensten Orten aufgebaut werden kann. „Orgeln sind ja eigentlich eingesperrt in den Kirchen. Wir aber haben eine reisefähige Orgel.“ Unwillkürlich kommen Assoziationen mit dem Orgelvirtuosen und Performer Cameron Carpenter und seiner „International Touring Organ“ auf. „Das ist keine Orgel! Das ist ein Computer“, empört sich Sollmann amüsiert über diesen Gedankensprung. Dann redet er sich über Carpenters demonstrativ zur Schau gestellte Virtuosität gespielt in Rage: „Virtuosität lehn ich ja komplett ab. Das hat mich noch nie interessiert. Ein Computer kann einfach viel schneller spielen als jeder Mensch, das ist doch total langweilig!“

Das ganze Konzept des umjubelten Bühnenstars ist Phillip Sollmann zutiefst zuwider. Und das, obwohl er selbst einer ist: Seit Mitte der Nullerjahre ist er als Efdemin Resident-DJ im Berghain. Poser-Fotos mit Plattenkoffer neben der monochrom schwarzgekleideten Schlange vor dem weltbekannten Techno-Club findet man auf seinem Instagram-Kanal allerdings keine. Stattdessen postet er nach seinem ersten Post-Lockdown-Gig im Berghain im Oktober ein Selfie aus der Badewanne und beschreibt darunter, wie nervös er vor diesem Gig war. „Ich hab das schon so oft gemacht. Aber ich konnte echt nicht schlafen vor diesem Gig! Und dann war es toll“, erzählt er lachend. „Aber ich war tatsächlich eine Woche lang genauso aufgeregt wie beim ersten Mal.“

An dieses erste Mal im Berghain, daran erinnert sich Phillip Sollmann noch ganz genau: 2005 war das und DJ Rolando vom Detroiter Kollektiv Underground Resistance spielte. Sollmann war fasziniert. „Diese Anlage, dieser Ort!“ Doch es sei auch ein ganz anderes Berghain gewesen als heute. „Wesentlich schwuler und irgendwie noch eher an den 90ern dran vom Clubbing her. Heute hat man ja diese ganze SM-Fetisch-Nackt-Queer-Divers-Szene da drin. Eine völlig andere Geschwindigkeit und Bewegung. Ein toller sozialen Brei, der da so in dem Laden rumblubbert.“

Lange hat es Sollmann damals nicht im Club ausgehalten – und das geht ihm bis heute so. „Zu intensiv“ sei es, findet er. Inspiriert war er trotzdem. Er fuhr mit der S-Bahn nach Hause, setzte sich in sein Schlafzimmer-Studio und schrieb „Acid Bells“. Der Track ist mit seinem reduzierten Groove heute ein Klassiker „Das hat genau 10 Minuten gedauert. Ich kam aus dem Berghain und war total voll mit dieser Musik. Ich hab so ein paar mal ,zick zick’ gemacht.“ Er tippt mit dem Zeigefinger in die Luft wie auf eine imaginäre Drum Machine. „Und dann gab’s diese Linie und das Stück war fertig. Ich habe sonst teilweise Monate an einem Stück gearbeitet. Und hier  war es so: ,Flupp!’ In dieser Form hat das nachher leider nie wieder funktioniert.“

Es ist die Zeit in der Efdemin bekannt  wurde. In den 90ern war der gebürtige Kasseler Sollmann in seiner Wahlheimat Hamburg über die linke Szene mit Techno in Berührung gekommen. Ihn faszinierte das Unprätentiöse am so proklamierten „faceless Techno“. „Ich fand das im Gegensatz zur Rockmusik sehr angenehm, wie unbeleuchtet und wie unwichtig Richie Hawtin damals in der Roten Flora in Hamburg irgendwo in der Ecke seine Musik gespielt hat.“ Sollmann fing selbst an aufzulegen und zog nach Wien, um Computermusik und konzeptuelle Musik zu studieren. Experimentelle Klangforschung interessierte ihn. Doch diese folgenreiche erste Nacht im Berghain sollte seinen musikalischen Weg der nächsten Jahre nachhaltig prägen. „Ich hab damals einem Freund ein Mixtape gegeben und der hat das dann dem Chef vom Berghain gegeben. Und der hat mich dann angerufen und gefragt: ,Willste am Wochenende spielen?’ Und ich so: ,Ich sterbe!’ Und das war dann der Anfang. So kam eins zum anderen. Es war überhaupt nicht mein Plan gewesen, international als DJ unterwegs zu sein. Das kam so über mich.“

Sollmann lebt den unwahrscheinlichen DJ-Traum, ohne je davon geträumt zu haben. Lange fremdelt er mit der exzessiven Feierszene, sucht nach seinem Platz zwischen Experiment und Funktionalität, zwischen Crowd-Pleasing und klanglicher Irritation. 2019 scheinen sich diese Welten schließlich harmonisch zu vereinen. Ausgerechnet mit dem konzeptuellen „New Atlantis“, Sollmanns erstem Album auf dem Berghain Label Ostgut Ton, kommen sich seine beiden Künstler-Aliase so nah wie nie zuvor. Psychedelische Drones und kaleidoskopartiger Techno treffen auf mechanische Instrumente wie Hackbretter oder Holzperkussionen.

„Als jemand, der sich über 20 Jahre in Club-Kontexten und verstärkter Musik bewegt hat, der sehr sehr viele Schallplatten hat und aufgezeichnete Archivmusik toll findet, hatte ich zunehmend ein starkes Bedürfnis nach einer Direktheit, nach einer direkten Erfahrung von Klang. Dieser mechanisch durch Luftschwingung erzeugte Sound, das ist schon jedes Mal sehr berührend.“ Auf dem 2020 erschienenen Nachfolger „Monophonie“, das er, nun wieder als Phillip Sollmann, für das Ensemble Musikfabrik komponierte, dreht sich alles um die mikrotonalen Instrumente des avantgardistischen Komponisten und Erfinders Harry Partch.

In Monheim wird er ein Ambient-Set spielen, nicht als Efdemin, sondern unter seinem Klarnamen. Wie sich dieses bis dahin entwickelt hat, darauf will sich Sollmann zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht zu konkret festlegen. Zu sehr ist seine Arbeit im Fluss. Ein Thema, das er daher auch inhaltlich zugrunde legen will: „Ich werde mich da mit dysfunktionaler Musik zum Thema Wasser, Fluss, Rhein und Fließen im Allgemeinen beschäftigen. Entweder wird es ein DJ-Set oder ein Amalgam aus elektroakustischer Live-Performance mit Hurdy Gurdy und Schallplatten.“ Phillip Sollmann in a nutshell also.

Außerdem wird er als Trio mit Konrad Sprenger und dem australischen Multi-Instrumentalisten Oren Ambarchi auftreten, der schon mit Größen wie Fennesz, Sunn  O))) und Charlemagne Palestine gearbeitet hat. Sollmann bezeichnet das Projekt als „Krautrock Improv Band“. Post-Techno trifft auf psychdelisch-verzerrte Gitarren-Riffs und polyrhythmische Grooves. 2018 hat das Trio seine erste EP auf A-Ton, dem experimentellen Sublabel des Berghain-Labels Ostgut Ton, herausgebracht. Während des Lockdowns war die Live-Session in der Halle am Berghain der einzige Stream, den Sollmann gespielt hat. Doch egal ob Krautrock, Drehleier oder Techno-Banger – die zugrundeliegenden Ideen bleiben bei Sollmann dieselben: Minimalismus, Repetition, das Ausreizen von Zeit- und Raumdimensionen und Sound. So wie auch bei seinem „Modular Organ System“.

„Es geht um den reinen Klang. Ich würde auch gar nicht sagen, dass das Musik ist, was Konrad Sprenger und ich mit dem ‚Modular Organ System‘  machen. Es hat mit Musik kaum noch etwas zu  tun. Weil Musik hat immer eine Richtung, eine Erzählung, eine Bewegung, eine Entwicklung. Das haben wir alles nicht mehr.“ Sollmann und Sprenger treiben die Statik als Prinzip hier radikal auf die Spitze: Durchgehende Drones lösen die Zeitlichkeit auf. Dadurch, dass die Besuchenden individuell entscheiden, wie lange sie sich in der Installation aufhalten, werden sie selbst zur Zeitachse und integraler Bestandteil der Installation. „Wenn du dich da durchbewegst, verändert sich das Spektrum der Obertöne zueinander. Du kannst zwischen den einzelnen Tönen hin und hergehen und das mischen. Dadurch, dass du dich bewegst, kannst du diesen Reichtum wahrnehmen, der da bisher verborgen war. Du brauchst dann gar keine Melodie mehr.“

Sollmann interessieren vielmehr mikrotonale Verschiebungen, quasi akustische Glitches. „Wenn eine Stunde lang nichts passiert und sich dann plötzlich etwas bewegt, das ist ziemlich krass.“ Irritationen auf der Mikroebene, Wahrnehmungsverzerrung – das fasziniert Sollmann. Und verortet ihn gleichsam in der Tradition der Minimal Art, bei der durch intensive statische Zustände ebenfalls plötzlich ein fast automatischer Prozess im Gehirn in Gang gesetzt wird. „Das ist wie, wenn du lange auf eine monochrome Farbe in einem Raum schaust. Dann fängt dein Auge irgendwann an etwas zu inszenieren. Weil es etwas braucht.“ Die Erfahrung über Stunden repetitive Musik zu hören und dadurch in einen tranceartigen Zustand zu kommen, ist wiederum eine Parallele zum Club. Als Meditation oder gar spirituelle Erfahrung will Sollmann seine Arbeit aber nicht verstanden wissen. Auch wenn er es nicht ausschließt, dass Menschen hier transzendente Momente erleben.

An der Orgel-Installation gefällt ihm vor allem, sich auch mal längerfristig auf einen Ort einlassen zu können, als für die Dauer eines DJ-Sets. „Man eignet sich den Ort an, auch auf sozialer Ebene. Die Leute, die den Raum betreiben, verwalten oder organisieren. Das sind Sachen, die du nicht hast, wenn du als ,Star-DJ’ – also ich war jetzt nie so berühmt! – rumfliegst und abgeholt wirst, auf die Bühne gehst, ins Hotel und wieder zurück fliegst. Das hat nichts mit ,den-Ort-kennenlernen’ zu tun.“ Hier gehe man regelrecht mit dem Raum in ein Zwiegespräch. Während andere Künstler*innen den Aufbau durch Simulation am Rechner vorplanen und dann ihre Assistent*innen zur Ausführung an den Ausstellungsort schicken, ist für Phillip Sollmann die intensive mehrtägige Begehung und Begegnung mit dem Ort zwingender Teil des künstlerischen Prozesses.

Ein Dialog mit dem Raum muss auch zwischen den Besuchenden und der Installation entstehen. Man muss das „Modular Organ System“ erfahren. Das Video, mit dem er mir anfangs versucht hat zu erklären, wie die Installation funktioniert, kann die Dreidimensionalität, diese komplexen, sich verändernden Schwingungen im Raum daher mitnichten abbilden. „Das ist definitiv auch eine Verweigerung“, freut sich Sollmann. „Es sieht zwar total toll aus, Instagram-ready. Aber die eigentliche, klangliche Sound-Erfahrung, die kannst du nicht digitalisieren oder irgendwohin transportieren. Das funktioniert nicht, weil das komplexe, durch die Bewegung entstehende Klangliche  nur eine individuelle Erfahrung sein kann. Die kannst du nicht bannen. Dadurch hat es was Exklusives, was in einer positiven Weise auch ausschließend ist, weil es die Intensität ermöglicht, die man sonst nicht hat.“ Der flüchtige Moment wird zur Maxime, die absolute Gegenwärtigkeit zum Ziel. No Photos on the Dancefloor! Stattdessen zwingt Phillip Sollmanns Arbeit immer zur ultimativen Selbsterfahrung. Denn die schönste Einsamkeit ist ja bekanntlich die, die man eingehüllt im Sound mit anderen gleichzeitig teilt.

Laura Aha

Künstlerseite Phillip Sollmann